Henrik Szántó hat einen fließenden Roman über die Bewohner eines zumindest von außen betrachtet ganz normalen Hauses geschrieben – und über die Frage, was Erinnerungskultur im Jahr 2025 bedeutet.

„Wir sind Zeuge erlernter Verhaltensweisen, des imitierten Gangs und der Zwiegespräche, wessen Papa klüger oder stärker ist. Wir sind Zeuge der Gespräche, in denen Taten und Verantworten verhandelt, zerschwiegen, verstanden werden, und wir bedauern den Stich, der mit der Erkenntnis einhergeht, der das fein säuberlich im Familienkreis erbaute und gehütete Gebilde einstürzen lässt. | Wer zu uns zieht, bringt die eigenen Eltern mit. In den Fragezeichen, den unausgesprochenen Vorwürfen oder im vergessenen Dank. Kinder werden Männer, Frauen oder entscheiden sich selbst, werden Väter, Mütter, Eltern, pflegen ihre Väter, Mütter, Eltern, wenn Ohrläppchen und Nasenhaar lang werden, das Gewicht der Jahre seine Furchen zieht.“

Als ich diesen Roman nach der letzten Seite zuklappe, weiß ich nicht, was ich fühlen soll: Bin ich traurig, dass mir dieses Buch nicht vollumfänglich und wie erhofft gefallen hat, obwohl – oder gerade weil – ich ahne, dass es vor zehn oder zwanzig Jahren noch anders gewesen wäre?

Aber fangen wir von vorne an, und zwar mit der ungewöhnlichen Erzählperspektive, die Henrik Szántó für seinen Roman TREPPE AUS PAPIER gewählt hat: Hier erzählt ein Mehrfamilienhaus, erbaut Ende des 19. Jahrhunderts, über die Menschen, die in ihm wohnen. Das finde ich spannend, ist in vielen Details hervorragend umgesetzt, und nachdem das Buch mit einem einzigen langen Satz beginnt, der sich über vier Seiten erstreckt, war ich sogar begeistert. Wie der Autor nachfolgend mit den Zeitebenen spielt, wie er oft Bilder überlagert, seine Figuren wie in einem Film oder bei einer Doppelbelichtung gleichzeitig an derselben Stelle des Treppenhauses stehen lässt, ganz nah beieinander und doch Jahrzehnte getrennt, das ist für mich Leser von geringem Verstand großes Kino.

Zunächst dachte ich, dass dieser erste Eindruck sich bestätigen und mich begeistert durch die 221 Seiten tragen würde. Und ja, es ist tatsächlich leicht, sich dem Sog der Geschichte hinzugeben, sich von Henrik Szántós Erzähltalent mitreißen zu lassen – zumal die Figuren, die er ins Rennen schickt, alle darauf ausgelegt sind, maximale Emotionen in uns zu wecken. Genau darin liegt für mich aber leider auch das Problem.

Henrik Szántó wählt für seinen Roman eine ungewöhnliche Perspektive – erzählt aus dieser aber Altbekanntes …

TREPPE AUF PAPIER umspannt ein Jahrhundert und hat laut Werbetext den Anspruch zu zeigen „wie Vergangenheit in der Gegenwart nachwirkt“; um mich damit auseinanderzusetzen, lassen sich nachfolgend Spoiler nicht vermeiden. Und vorher sei mir die Bemerkung erlaubt, dass hier noch etwas anderes nachzuwirken scheint, nämlich die Umschlaggestaltung von IN IHREM HAUS von Yael van der Wouden, was sicher Zufall ist … aber natürlich auch nichts mit dem Buch oder seinem Autor zu tun hat.

Erzählt wird – mit wenigen Ausflügen in andere Wohnungen und Leben – die Geschichte von drei Familien: Da ist die des jüdischen Hausbesitzers Sternheim, eines Uhrmachers, der auch deswegen im Ersten Weltkrieg gekämpft hat, weil es ihm wichtig war zu zeigen, dass er genauso zu Deutschland gehört wie Männer, deren Urgroßväter schon hier geboren wurden. Jahre später ist seine Tochter Ruth die erste, die in der Schule und auf der Straße die immer stärkeren Repressalien zu spüren bekommt, und da hilft es wenig, dass im Haus ein kleines „deutsches“ Mädchen immer noch mit ihr spielen möchte, auch wenn deren Nazi-Eltern das nicht mögen: Irma. Die lebt in der Gegenwartsebene der Geschichte, inzwischen 90 Jahre alt, wieder im Haus, in der Wohnung ihrer ungeliebten Mutter; dort steht immer noch diese besonders schöne Kommode, die früher den Sternheims gehört hat. Man zweifelt zu keiner Sekunde daran, wie dieses Prachtmöbel seine Besitzer gewechselt hat; als es schließlich passiert, ist es trotzdem ein kleiner Schlag.

Es ist diese Vorhersehbarkeit, die TREPPE AUS PAPIER immer wieder Wucht verleiht – gleichzeitig wirkt es auf mich nach sehr vielen Romanen, in denen genau das passiert, wie ein „more of the same“. Aber das ist vielleicht unvermeidlich, wenn man eine Zeit und seine Schrecken abbilden will.

Im Dachgeschoss wohnt inzwischen die Teenagerin Nele mit ihren Eltern (in der Wohnung, in die Familie Sternheim ziehen musste, nachdem es ihr verboten war, Eigentum zu behalten und sie das Haus zwangsverkaufen musste). Nele wird bald 16, hat sich in eine Mitschülerin verliebt und hofft, dass diese ihre Gefühle erwidert. Dann aber kommt sie mit Irma in Kontakt, und auf einmal steht die große Frage im Raum: Welche Schuld hat Neles Familie in der Nazi-Zeit auf sich geladen?

Wieviel Graustufen wären möglich bei einem Roman über das Dritte Reich und den Holocaust?

TREPPE AUS PAPIER ist meiner Meinung nach der Beweis dafür, dass die ordentliche Aneinanderreihung des für sich genommen stets Stimmigen und Richtigen am Ende nicht automatisch ein gelungenes Ganzes bedeuten muss – denn Henrik Szántó überfrachtet seine Geschichte.

Alles für sich genommen ist gelungen; um nur zwei Beispiele zu nennen: Alvin Sternbergs Liebe zu Deutschland oder die Einbettung der gnadenlosen Pädagogik von Johanna Haarer, deren Buch „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ auch nach dem Ende des Dritten Reiches noch Generationen traumatisierte. Aber es ist ein bisschen zu viel des gut gemachten Schrecklichen, zumal der Autor es uns Lesenden einfach macht mit einem Hang zum Schwarzweiß: Die jüdischen Opfer sind grundgut, liebenswert und fügsam, die Nazi-Täter zerfressen von Hass, Kälte und aus Frustration geborenem Machthunger. Die Rollen sind also überdeutlich verteilt; dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, aber … es ist eben auch die einfachste Art, das darzustellen.

Ebenso deutlich ist der kalte Wind, der Nele entgegenweht, als sie beginnt, sich für die Vergangenheit ihrer Familie zu interessieren. Ihre Mutter, der es gerade noch wichtig ist, dass ihre Tochter den Unterschied zwischen „Ich muss“ und „Ich will“ versteht, mag Yoga und ihren Online-Achtsamkeitscoach – aber schon bei der zweiten Rückfrage, ob (Ur-)Oma und (Ur-)Opi wirklich gegen das Dritte Reich waren, reagiert sie mit „Nele, du nervst“.

Ihr Mann wird noch aggressiver, als seine Tochter anzweifelt, dass sein Vater als Polizist vor und während des Dritten Reichs nie Schuld auf sich geladen hat: Erinnert sich seine Tochter denn nicht mehr daran, was für einen liebevollen und fürsorglichen Mann Opa sie hatte? (Ich muss zugeben, dass mich diese Frage irritierte – natürlich kann ein Mann, der vermutlich vor 1915 geboren wurde, seine 2007 zur Welt gekommene Enkelin kennengelernt haben – aber wann hat er dann seinen Sohn und ihren Vater gezeugt, der zum Handlungstermin immer noch berufstätig ist?)

Natürlich ist TREPPE AUS PAPIER in vielerlei Hinsicht ein gelungener Roman – kann aber auch wie die Fleißarbeit eines Autors wirken, der nichts falsch machen will

Sind diese heftigen Reaktionen im Jahr 2023 noch nachvollziehbar? Viele werden vermutlich sagen: Ja, klar, denk die Wähler der rechten „Alternativ“partei. Aber würde ein Teenager, der in so einem Haushalt aufwächst, überhaupt diese Fragen stellen?

Weil die Abwehr der Eltern noch nicht zu reichen scheint, um den Punkt des Autors zu verdeutlichen, outet sich auch Neles große Liebe mit der Regenbogen-Haarspange beim lang ersehnten Kuscheln als wenig interessiert an der Auseinandersetzung mit der Geschichte („Es kommt doch vor allem darauf an, dass wir es nicht wieder so weit kommen lassen.“); ein weiteres Kästchen auf der Liste der Vergangenheitsleugnungen, das Henrik Szántó abhaken kann. Und schließlich setzt der Autor noch einen Jungen in die Handlung, der Ungar ist – und rund um die WM 2006 ins rechte Lager abdriftet. Balázs ist vielleicht die traurigste – oder ärgerlichste – Figur im Buch, da er einerseits wichtig sein könnte, aber nur dazu dient, einen weiteren Checklisten-Punkt abzuhaken: Es sind nicht nur Deutsche, die für fremdenfeindliche und völkische Parolen anfällig sind.

(Vielleicht müsste an dieser Stelle nicht erwähnt werden, dass es vor Nele schon einmal einen queeren Teenager im Haus gab – und dessen einzige Aufgabe in der Geschichte es ist, Opfer homophober Gewalt in der Familie zu werden. Aber weil der Autor sich die Mühe gemacht hat: CHECK!)

TREPPE AUS PAPIER ist ein Roman, der vor allem geeignet ist, um Menschen für das Thema zu sensibilisieren, die sich noch nicht oft damit auseinandergesetzt haben – und eignet sich deswegen sicher auch als Schullektüre!

Man versteh mich nicht falsch: TREPPE AUS PAPIER ist kein schlechtes Buch, im Gegenteil. Henrik Szántó schreibt flüssig und mitreißend, er versteht sich auf die emotionale Führung seines Publikums und starke Szenen, und sein Wille, alles richtig zu machen – auch durch das in der Danksagung erwähnte Sensitivity Reading –, ist ehrenwert. Aber während ich diese Zeilen schreibe, muss ich trotzdem an HEIMSUCHUNG von Jenny Erpenbeck denken, um nur ein Beispiel zu nennen aus der Vielzahl der hervorragenden Romanaufarbeitungen der deutschen Geschichte (und in dem, wir erinnern uns, auch ein Haus im Mittelpunkt steht). Das führt mich nun zu meiner eingangs erwähnten Unsicherheit, was ich über dieses Buch denken soll:

Habe ich einfach zu viel Vergleichbares gelesen, bei dem die Mechanik weniger deutlich zu erkennen war? Bin ich darum vielleicht einfach zu alt für TREPPE AUS PAPIER, und kann dieser Roman für jüngere Lesende ein … setzen wir hier ruhig einmal ein großes Wort … Erweckungserlebnis sein?

Ich freue mich für alle, die ungeteilt begeistert sein können von diesem Roman, und für diejenigen, die vielleicht noch nicht so abgestumpft sind wie ich. Und dem Autor? Wünsche ich, dass in zehn oder zwanzig Jahren jemand einen anderen Roman lesen wird … und danach mäkelt: „Das habe ich doch alles schon gelesen bei Henrik Szántó.“

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Ich habe dieses Buch nicht gekauft, sondern das Rezensionsexemplar von einer Bekannten in die Hand gedrückt bekommen, die beim Verlag arbeitet. Bei meiner Rezension handelt es sich trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung: Sie gibt lediglich meine subjektive und unbeeinflusste Meinung wieder.

Henrik Szántó: TREPPE AUS PAPIER. Blessing Verlag, 2025.