Wie gut kennen wir die Menschen, die von Geburt an Hauptrollen spielen in unserem Leben? In ihrem Debütroman ONIGIRI spürt die Autorin Yuko Kuhn vor allem ihrer japanischen Mutter, aber auch ihrer deutschen Großmutter nach … und vieles mehr.

Es gibt verschiedene Wege, um ein Buch für sich zu entdecken. In diesem Fall waren es der Schutzumschlag und das sympathische Foto der Autorin; ein werbendes Zitat von Doris Dörrie schadet natürlich nie.

Und dann ist da diese erste Seite, die klar macht, dass ONIGIRI einer jener Romane ist, die mich sofort neugierig machen auf mehr: „Yasuko lebt nicht mehr“, lautet der erste Satz: „Sie ist einfach gestorben und wir haben es gar nicht gemerkt.“

Mit dem zweiten Absatz tauchen wir dann schon tief ein in eine Familiendynamik: „Er habe nicht mehr gewusst, was er wählen müsse, um nach Deutschland zu telefonieren, entschuldigte sich Massayuko am Telefon, als ich mich bei ihm melde. Ich höre die Stimme meines Onkels und wundere mich, da mir der Abstand zu ihm eben noch so unendlich groß erschien, wie es sein kann, dass ich mich ihm jetzt, wo ich mit ihm spreche, nach all den Jahren auf einen Schlag so nahe fühle.“ Und damit war’s um mich geschehen.

Yuko Kuhn erzählt von Nähe und Fremdheit, von Liebe, die sich seltsame Wege bahnt, und Gleichgültigkeit, die nichts mit Kälte zu tun haben muss. ONIGIRI ist Familiengeschichte, Emanzipationserzählung und Mutter-Tochter-Roman zugleich … und wer eine Liebe für Japan hegt, kann auch darauf abheben; für mich steht dieser Aspekt allerdings nicht im Mittelpunkt. Viel wichtiger ist, wie die Autorin sich an die Figuren herantastet, wie sie hinter die Kulissen von Familien und Menschen schaut, wie sie uns überrascht (und manchmal vielleicht auch sich selbst).

ONIGIRI ist ein Buch, das man nach 204 Seiten mit einem Gefühl von Zufriedenheit zuklappt und der Wahrnehmung, etwas geschenkt bekommen zu haben vom Text. Trotzdem habe ich noch drei Fragen – und freue mich sehr, dass Yuko Kuhn sich die Zeit genommen hat, sie zu beantworten.

Liebe Yuko, Du hast für ONIGIRI auf Elemente Deiner eigenen Geschichte zurückgegriffen, aber keine Biografie geschrieben, sondern einen Roman. Wie fühlt sich das beim Schreiben an, wenn man mit sich selbst anfängt, dann auf dieser Grundlage aber Figuren und eine Handlung entwickelt, die eine eigene Dynamik haben?

Yuko Kuhn: „Als ich 2019 begonnen habe mit dem Schreiben, wusste ich nicht, um was es gehen würde in meiner Ansammlung an Miniaturen. Es hat sich intuitiv ergeben – von einer realen Erinnerung zur nächsten, einem fiktiven Bild zum anderen. Irgendwann wurde klar, dass es ein Text über meine Mutter werden würde. Da war dieser dringliche Wunsch, sie zu ergründen, ihr gerecht zu werden. Über die Jahre bin ich immer mehr zurückgetreten, um die Regie zu übernehmen, es galt, die vielen kleinen Teile in einen Zusammenhang zu bringen, bis es diese Geschichte wurde – eine sehr persönliche, aber auch, hoffentlich, eine universelle. Ich fühle mich all meinen Figuren nahe, sie sind ein Teil von mir. Wir alle erzählen uns permanent eine Geschichte, um uns mit der Welt und uns selbst in Einklang zu bringen. Schreiben ist für mich Aussöhnung und Umdeutung.“

ONIGIRI erzählt die Geschichte einer Frau, die mit ihrer an Demenz erkrankter Mutter eine letzte Reise in deren japanische Heimat unternimmt: Es ist eine Mutter-Tochter-Geschichte, ein Familienporträt, erzählt aber auch von verschiedenen Aspekten des Loslassens. Welcher Aspekt war Dir beim Schreiben besonders wichtig?

Yuko Kuhn: „Akis Großmutter Yasuko stirbt, und mit ihr droht eine ganze Welt zu verschwinden. Aki unternimmt diese Reise mit ihrer Mutter, die ihr zunehmend in die Demenz entgleitet. Gemeinsam erleben sie Abschiede, ein Loslassen auf vielen Ebenen. Mir ging es beim Schreiben vor Allem um das Loslassen von tief verankerten Vorstellungen über die eigene als ‚fehlerhaft‘ empfundene Familie. Das einsame Leben der Mutter, ihre Traurigkeit, die vielleicht gar nicht so übermächtig war, wie Aki sie als Kind empfunden hat, wird in die Geschichte einer jungen Frau umgewandelt, die mit einer immensen inneren Unabhängigkeit, großem Fleiß und Mut ihr Glück suchte. Auch lässt Aki ihre Rolle als ‚Familienscharnier‘ los, macht diesen permanenten Spagat nicht mehr. Sie schafft es, weniger zu urteilen, sich zu lösen, gerade dadurch kann wieder echte Nähe entstehen.“

Dein Roman zeichnet sich durch eine literarische Sprache aus, die ich als sehr besonders empfunden habe: Sie ist ruhig, treibt uns Lesende aber gleichzeitig durch die Handlung, sie ist eher nüchtern und konzentriert, lässt die Geschichte aber in hellen Farben leuchten. Wie hast Du zu diesem Stil gefunden?

Yuko Kuhn: „Die Sprache meines Romans habe ich nicht bewusst gewählt. Was den Grundton betrifft, denke ich, klingt meine Schreibstimme einfach so. Einige Passagen sind wörtlich erhalten geblieben, andere habe ich über Jahre hinweg unzählige Male überarbeitet. Im frühen Manuskript habe ich Gefühle oftmals explizit benannt, bis eine erfahrene Autorin mir riet, es anders zu versuchen, mit der Beschreibung einer Geste etwa, eines Gesichtsausdrucks, etwas, was man filmen könnte. Oft habe ich in mehreren Sätzen hintereinander das Gleiche erzählt, ich habe mich bei jeder Szene an ein Gefühl herangeschrieben, um es zu begreifen, und musste mich dann am Ende für die beste Variante entscheiden. Ich habe versucht, den Kern herauszuarbeiten und möglichst für sich stehenzulassen, tief reinzugehen in ein Bild, um es dann im richtigen Moment abrupt zu verlassen.“

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Ich habe dieses Buch nicht gekauft, sondern das Leseexemplar vom Verlag geschickt bekommen. Bei meinem Interview handelt es sich trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung: Es ist lediglich Fanboy-tum und Begeisterung für diesen Roman.

Yuko Kuhn: ONIGIRI. Hanser Berlin, 2025.