Kann man einen Roman als faszinierende Ohrfeige bezeichnen? So fühlt sich DAS LEBEN NEBENAN von Anne Sauer manchmal an. Im Kurzinterview spricht sie nun über Wände, durch die wir alle nicht sehen können.

Und dann wacht sie auf, und alles ist anders: Gerade noch war Toni glücklich in ihrem Großstadtleben, wenn man von ihrem bisher unerfüllten Kinderwunsch absieht. Aber jetzt ist sie auf einmal wieder in dem Dorf, in dem sie aufgewachsen ist. Und da hat sie gerade ein Kind bekommen, mit ihrem Jugendfreund. Verliert sie den Verstand – oder ist DAS LEBEN NEBENAN ihre neue Realität?

Anne Sauer hat einen Roman geschrieben, der viele Fragen aufwirft, einige davon beantwortet und sehr viel Raum lässt, um sich eigene Gedanken zu machen: über eine Geschichte, die bewegt, irritiert, vielleicht sogar ärgert … aber ganz sicher nicht kalt- oder allzu schnell loslässt.

Klar, dass ich neugierig geworden bin. Und DANKE an die Autorin, dass sie sich Zeit für meine Fragen genommen hat. Ihr findet die Antworten, wenn ihr nach links swiped oder in den Kommentaren unter diesem Posting.

Liebe Anne, Du schreibst in Deinem Roman DAS LEBEN NEBENAN über die Überforderung einer Frau, nachdem sie ein Kind bekommen hat. Provokant gefragt: Willst Du vorbereiten, warnen … oder weißt Du als erfahrene Literaturkennerin, dass viele Leserinnen Geschichten mögen, in denen Frauen an ihre Grenzen kommen?

Anne Sauer: „Ich finde die Frage gar nicht so provokant, ich halte sie eher für undurchdacht. Eine, in meiner Wahrnehmung, aber klassische Falle, in die viele tappen, wenn es in Gesprächen oder Texten um Mutterschaft geht. Weshalb erzählt sie mir das, will sie mich abschrecken, will sie mich überzeugen – Fragen, die für beide Seiten gelten können. Ich erzähle von Überforderung und Unsicherheit, von Zumutungen des Frauseins. Oder, wie du richtig sagst, von einer Frau, die in beiden Versionen ihres Lebens an ihre Grenzen kommt. Vielleicht mögen wir solche Geschichten, weil sie für uns wahr sind. Ich wollte einen Text schreiben, in dem sich auch meine Leserinnen gesehen fühlen.“

Im Kontext Deiner Geschichte macht es Sinn, dass die kinderlose Frau in der „anonymen“ Großstadt lebt, wo man trotzdem die Nachbarn vögeln hört, und die Frau mit Kind auf dem Land, wo es ruhiger ist … die Nachbarn aber hinter der Gardine lauern. Hätte die Geschichte für Dich auch andersherum funktioniert?

Anne Sauer: „Theoretisch kannst du die Geschichte auch so lesen – andersherum. Was wäre, wenn eine Mutter plötzlich in einem Leben ohne Kind aufwacht? In einer Stadt, die ihr fremd ist, weit weg von ihrer Familie, ohne Freundinnen, die sie gut kennen. Ohne finanzielle Sicherheit, unterwegs auf einem Lebensweg, den sie sich nicht ausgesucht hat – Horror. Die Kernthemen waren für mich unabhängig von Stadt oder Dorf. Es gibt überall Mütter und kinderlose Frauen, auf beiden Seiten gibt es Einsamkeit, Verlust und Abschiede, überall findet ein Sich-Arrangieren-Müssen statt, findet sich Glück und Erfüllung. Es gibt überall Wände, durch die wir nicht wirklich in das Leben nebenan schauen können.“

Hast Du während des Schreibens von DAS LEBEN NEBENAN etwas Neues herausgefunden über das Thema Kinderwunsch, was Dir vorher noch nicht bewusst war?

Anne Sauer: „Ich dachte lange, ich müsste mir sicher sein. Beim Schreiben, und durch Gespräche mit anderen, habe ich für mich herausgefunden: Schwanken ist verständlich. Das Hinterfragen ist normal. Woher kommt ein Kinderwunsch überhaupt? Was passiert, wenn der wieder weggeht – oder weggehen muss? Es ist, das wusste ich vorher, komplex und noch dazu paradox. Ein Kinderwunsch ist privat und gleichzeitig gesellschaftsrelevant, er geht niemanden etwas an und betrifft uns doch alle. Unser Zusammenleben, unser Verständnis für andere Entscheidungen, für Arbeitsmodelle, die Politik. Ich habe für mich entschieden: Wenn ihr schon über Kinderwunsch reden wollt, dann müsst ihr auch vom Verlieren erfahren. Von der Hoffnung und den Zweifeln, den absurden Ansprüchen, dem unfassbar vielen Geld und den körperlichen Zumutungen, die damit einhergehen können. Das ist für mich untrennbar geworden.“

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Ich habe den Roman von Anne Sauer nicht selbst gekauft, sondern von der liebreizenden Pressebetreuerin des Verlags in die Hand gedrückt bekommen. Bei meinem Interview handelt es sich trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung; ich habe es geführt, weil ich neugierig bin.

Anne Sauer: IM LEBEN NEBENAN. dtv, 2025.