Ein Interview mit dem preisgekrönten Journalisten Hennig Sußebach, der in seinem Buch ANNE – ODER: WAS VON EINEM LEBEN BLEIBT von seiner Urgroßmutter erzählt, die er durch das Schreiben kennengelernt hat.
Wenn man sich die Aufzählung der Preise ansieht, mit denen der Journalist Henning Sußebach in den letzten Jahren ausgezeichnet wurde, kann einem schwindelig werden – denn da ist alles dabei, vom Henri-Nannen-Preis und dem CNN Journalist Award bis zum Egon-Erwin-Kisch-Preis und dem Theodor-Wolf-Preis. Und nun hat er ein neues Buch geschrieben, in dem es um die Geschichte seiner Urgroßmutter geht, die er nie kennengelernt hat und von der nur wenige Erbstücke erhalten geblieben sind.
Für uns Lesende ist das eine ausgesprochen spannende Erfahrung: Wir reisen, fest in unserer Alltagsrealität verankert, mit dem Autor in die Vergangenheit, lernen eine spannende Frau kennen – und erleben, wie Henning Sußebach sich dieser Frau nähert, über klassische Recherche, aber auch über ein Herantasten, über Vermutungen. ANNA – ODER: WAS VON EINEM LEBEN BLEIBT ist das zugewandte, in gewisser Weise intime Porträt einer Frau, die sich in einer Männerwelt durchgesetzt hat und deren Lebensweg uns immer wieder überrascht; noch dazu erfahren wir in kurzen Einschüben etwas über die großen Entwicklungen der Zeit, in der Anna lebt. Das hat mich unweigerlich an die Bestseller von Florian Illies erinnert; Sußebach begeistert mich vielleicht noch etwas mehr, weil es hier eben kein süffisantes „Und was macht eigentlich Rilke?“ gibt, sondern neben der journalistischen Herangehensweise auch immer wieder zu spüren ist, dass der Autor sich etwas für seine Protagonistin wünscht, von dem wir ahnen, dass es vielleicht anders war.
Ich freue mich sehr, dass Henning Sußebach sich die Zeit genommen hat, mir drei neugierige Fragen zu beantworten.
In Deinem Buch DEUTSCHLAND AB DEM WEGE hast Du über Begegnungen jenseits der großen Straßen und Städte geschrieben, jetzt hast Du für ANNA – ODER: WAS VON EINEM LEBEN BLEIBT die Geschichte Deiner Urgroßmutter recherchiert, ordnest das alles aber auch in ein Porträt ihrer Zeit ein. Verstehst Du Deine Bücher in erster Linie als dokumentarisch, persönlich oder politisch?
Henning Sußebach: »Darf ich antworten, dass ich meine Bücher persönlich-politisch finde? Hauptberuflich bin ich ja Journalist. Da ist es oft so: Erst hat man ein Thema, zum Beispiel Armut, dann sucht man Menschen, an deren Leben man dieses Thema erzählt. Bei Anna war es umgekehrt: Da standen am Anfang diese Frau und ihr unglaubliches Leben, Stoff für einen Kinofilm.
Je mehr ich dazu recherchierte, über die damaligen Zeitumstände erfuhr, desto stärker drängten sich Vergleiche zu unserer Gegenwart auf, gesellschaftliche und politische Fragen: Ähneln die Krisen heute denen zu Annas Zeiten? Woher nahm diese Frau die Kraft, aus allem Schlechten, das ihr passierte, immer das Beste zu machen? Und besitzen wir diese Fähigkeit heute noch? Das macht mein neues Buch – an wenigen Stellen – politisch. Aber vor allem ehrt es die Person Anna. Ich möchte sie vor dem Vergessenwerden retten.«
Wenn Du über Deine Urgroßmutter schreibst, die Du nie kennengelernt hast, näherst Du Dich den Leerstellen ihres Lebens tastend und sensibel, spielst mit Annahmen und Wünschen. Was glaubst Du: Wie nah bist Du der Anna, wie sie wirklich gewesen ist, gekommen?
Henning Sußebach: »Ich glaube, ich hoffe, Annas Lebensleistung fast vollständig erfasst zu haben. Das Bild, das sich ihre Zeitgenossen damals von ihr machten, eventuell zu 75 Prozent. Ihr Inneres? Vielleicht zur Hälfte. Das klingt nach wenig, aber ich wollte ein ehrliches Buch schreiben. Ich wollte nicht mit fiktiven Mitteln Lücken füllen, die sich in den Geschichten unserer Vorfahren nun mal auftun. Meine Hoffnung ist, dass die Leserinnen und Leser die Leerstellen mit eigener Fantasie füllen und vielleicht motiviert werden, die Biografien ihrer eigenen Ahnen zu recherchieren, solange das möglich ist.
Darüber hinaus fühlte es sich beim Schreiben manchmal übergriffig an, mich im Nachhinein über Annas Leben zu beugen, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte. Da wollte ich ihr ihre Leerstellen und ihre Geheimnisse lassen, statt ihre Geschichte durch Hinzufügungen zu meiner zu machen.«
Was hast Du über Dein eigenes Leben verstanden, weil Du Dich mit dem Deiner Urgroßmutter auseinandergesetzt hast?
Henning Sußebach: »Ich kam beim Schreiben nicht umhin, mich dauernd in Anna zu spiegeln. Ich vermute, beim Lesen wird’s auch so sein. Man fragt sich: Woher nahm die Frau ihren Mut – und das in einer Männerwelt? Kleiner Spoiler: Anna verliert auf tragische Weise ihre große Liebe. Aber in ihrem Fall ist das nicht das Ende, sondern der Anfang von etwas Neuem. Anna verändert sich privat wie beruflich, gegen alle Widerstände, mehr verrate ich nicht. Diesem Neuen habe ich meine Existenz zu verdanken.
Darüber denke ich viel nach: Wie sehr bestimmen ganz normale Menschen den Lauf der Dinge? Überall auf der Welt? Tag für Tag? Unsere Gegenwart wird ja nicht nur von Präsidenten, Kriegsherren oder Erfindern geformt, sie ist das Ergebnis aus Millionen Mikro-Entscheidungen in der Menschheitsgeschichte. Das kann man als Last empfinden. Mich inspiriert es.«
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Ich habe das Buch Henning Sußebach nicht selbst gekauft, sondern als Rezensionsexemplar vom Verlag C.H. Beck bekommen. Bei meinem Interview handelt es sich trotzdem nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung; ich habe es geführt, weil ich neugierig bin.
Henning Sußebach: ANNA – ODER: WAS VON EINEM LEBEN BLEIBT. Die Geschichte meiner Urgroßmutter. C.H. Beck, 2025.
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