Mit GYM legt die Autorin Verena Keßler allerfeinste Kinnhaken-Prosa vor – und beantwortet nun drei Fragen zu ihrem Roman über Selbstoptimierung, Kontrollverlust und eine Frau, die wir schnell ins Herz schließen, bevor sie uns das Fürchten lehrt.

Als die wunderbare Mona Lang (Lichtgestalt und Programmleiterin bei Kiepenheuer & Witsch) mir vor einigen Monaten prophezeite „Pass auf, das wird ein herrlicher Weird-Girl-Lesesommer“, ahnte ich noch nicht, wie sehr ich mich in diesen Roman verlieben würde: Von einer kleinen Lüge zu Fleischresten unter den Fingernägeln, von einer Karriere, die ihre steile Aufwärtskurve verliert, bis zum Reißen von Muskelfasern, um den Körper „schöner“ werden zu lassen: Verena Keßler hat einen Roman geschrieben, der uns den (Angst-)Schweiß auf die Stirn treiben würde, wenn er nicht – trotz seines hohen Tempos – ein so entspanntes Lesevergnügen wäre.

Umso mehr freue ich mich, dass die Autorin sich die Zeit genommen hat, mir drei neugierige Fragen zu GYM zu beantworten.

Liebe Verena, Dein Roman GYM erzählt unter anderem von Lügen und Kontrollverlust. Gehört Deiner Meinung nach beides ursächlich zusammen?

Verena Keßler: „Beides kann sich gegenseitig befeuern. Der Moment, in dem meine Protagonistin die Lüge erzählt, sie hätte gerade erst entbunden, ist für sie ein vulnerabler. Ihr früheres Leben existiert nicht mehr, sie braucht einen Job, um sich etwas neues aufzubauen, und da wird ihr gesagt, dass sie dafür eigentlich nicht fit genug aussieht.

Indem sie die Lüge erzählt, gewinnt sie die Oberhand zurück, sie ist nicht mehr schwach, sondern hat jetzt einen guten Grund, nicht in Bestform zu sein. Aber so eine Lüge aufrechtzuerhalten ist natürlich sehr aufwändig – und die Gefahr, dass alles außer Kontrolle gerät, ist immer nah.“

Wer GYM liest, wird Deine Hauptfigur ein paar Mal in ganz anderem Licht sehen als vorher. Wusstest Du von Anfang an, wie Du sie darstellen wolltest, oder hast sich das im Lauf des Schreibens verändert?

Verena Keßler: „Ich wusste von Anfang an, dass es um Ehrgeiz und den unbedingten Wunsch nach Anerkennung geht, dass meine Figur da extrem ist, und dass sie auch das Potenzial hat, komplett zu eskalieren. Was ich finden musste, war der Weg dahin. Ich wollte, dass man sanft in den Text gelockt wird, und die Protagonistin vielleicht erstmal nur ein bisschen seltsam findet, aber nicht sofort ahnt, was wirklich in ihr schlummert. Sie dann nach und nach an den Punkt der Eskalation zu treiben, hat Spaß gemacht.“ 

Wenn man sich Deine drei Romane DIE GESPENSTER VON DEMMIN, EVA und jetzt GYM ansieht, sind alle drei sehr unterschiedlich und besonders. Wie findest Du Deine Geschichten – und gibt es ein verbindendes Element, das ich übersehe?

Verena Keßler: „Das war bei jedem Buch anders, und es ist ja auch immer ein längerer Prozess von der ersten Idee hin zur Geschichte. Ich habe immer mal wieder den Gedanken, ah, dies oder das wäre doch spannend für einen Roman, aber damit ich mich dann auch wirklich dran setze und dran bleibe, muss ich erstmal rausfinden, ob es mich wirklich genug interessiert, um damit so viel Zeit zu verbringe. Es muss irgendwas drinstecken, was mich wirklich beschäftigt.

Es gibt bestimmt einiges, was die Bücher verbindet, was mir selbst als erstes einfällt, ist, dass es in jedem der drei Bücher auch um den Blick der einen auf die andere geht. Das ist etwas, was mich immer interessiert: Wie nehmen wir uns gegenseitig wahr, wie erscheinen wir nach außen, wie sieht es innen wirklich aus.“

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Ich habe dieses Buch nicht gekauft, sondern vom Verlag als Rezensionsexemplar erhalten. Bei diesem Interview handelt es sich nicht um eine beauftragte oder bezahlte Werbung: Ich habe es aus persönlichem Interesse geführt. Und ein bisschen auf Fanboy-tum.

Verena Keßler: GYM. Hanser Berlin, 2025.